Autor: AS Histo Journal

Die Fremde

Die Erfindung der literarischen Doku-Fiktion – Stefan Hertmans Geschichte spielt im ausgehenden 11. Jahrhundert und wie so oft zeigt sich an dieser historischen Schilderung, wie aktuell auch derartig lange vergangene Geschehnisse sein können. Erschreckend wenig hat sich in all der Zeit in der Menschenwelt verändert. Noch immer sind Menschen auf der Flucht, wegen Verfolgung, Krieg, oder materieller Not. Der Hintergrund zu dem Roman »Die Fremde« ist Teil der Geschichte des Ortes, in dem Stefan Hertmans seit Jahren lebt, des Dorfes Monieux, mittelalterlich Moniou, am Fuße des Mont Ventoux im Süden Frankreichs. Es ist eine Geschichte, die Hertmans fasziniert und der er auf den Grund gehen will. Dabei lässt er den Leser teilhaben an seiner Herangehensweise, seiner Suche nach den Umständen, den historischen Fakten, aber auch dem Stoff, mit ein Autor die Lücken in der Überlieferung schließt. Eben dem Produkt der Recherche, das sich üblicherweise in einem Roman transformiert. Doch nicht in diesem Fall. Hier wird der Prozess zum Roman. Zunächst zu der überlieferten Geschichte, um die es Hertmans geht: David und Vigdis Adelais – die …

Constanze Wilken im Interview zu »Das Erbe von Carreg Cottage«

Interview mit Constanze Wilken – Histo Journal: In den letzten Jahren hast du deine Leserinnen und Leser vor allem mit deinen Wales Romanen erfreut. Mit »Das Erbe von Carreg Cottage« kehrst du nach langer Abstinenz furios zum historischen Genre – oder sagen wir mal, zur Histo Melange – zurück. Magst du kurz umreißen, worum es in dem Roman geht? Constanze Wilken ›: Histo Melange trifft es gut – der Roman erzählt auf zwei Zeitebenen vom Schicksal zweier starker Frauen. Lilian ist die Protagonistin der Gegenwart, die ein Pilgercottage in Aberdaron in Nordwales erbt und Meara eine junge Druidin, die sich im 7. nachchristlichen Jahrhundert behaupten muss. Das Cottage birgt ein Geheimnis, das Lilian nach und nach aufdeckt. Parallel dazu wird die Geschichte von Meara erzählt, die in einer Zeit lebt, in der die ersten Christen den alten Glauben aus Wales zu verdrängen begannen. Was die beiden Frauen verbindet und warum das Thema Toleranz damals wie heute aktuell ist – erzählt der Roman. Wales ist ein Land der Mythen und Legenden, oder? › Oh ja! Die Vergangenheit …

Filmkritik: Silence

»Silence« – Vorweg muss gesagt werden: Zuschauer, die zum Christentum die Einstellung haben »find ich blöd« können sich den Film sparen. Alle, die sich fragen, was das Wesen von Religion im Guten wie im Schlechten ausmacht, werden in diesem 2:40 Min langen Werk sehr viele Denkanstöße finden. Scorsese führt in eine Welt, in der der Mensch noch sehr klein ist: Am Rande eines gewaltigen Meeres oder inmitten unbezähmter Natur klammert er sich an ein kleines Stückchen Erde. Die Priester, die heimlich in Japan landen müssen, treffen auf Bauern, die in bitterster Armut leben. Sie stehen in der Feudalherrschaft Japans ganz unten – nicht anders als die europäischen Bauern zu dieser Zeit. Und sie haben keine Aussicht darauf, dass ich ihre Situation verbessern wird. Unter ihnen ist die christliche Botschaft der Gleichheit und auf fruchtbaren Boden gefallen, freilich nur als eine Aussicht auf ein Paradies, das nicht von dieser Welt ist. Die Priester, die kaum Japanisch verstehen, nehmen gestammelte und Tränen reiche Beichten entgegen und wissen kaum, wofür sie die Absolution erteilen. Der Zuschauer fragt sich …

Manitoba

Linus Reichlin »Manitoba« – Manitoba ist kein historischer Roman. Und doch passt er gut in das Konzept unseres Journals. Denn Manitoba ist ein Roman über Geschichte, ihre Bedeutung im Großen wie im Kleinen, über die Vergangenheit und die Erinnerung an vergangenes, im im engen und im weiten, ja weitesten Sinne. Damit wird »Manitoba« zu einem Roman über Identität, über ihr Wesen und ihre Bedeutung. Am Anfang des Romans steht die Familiengeschichte des Schriftstellers Max Beer: »Es ist eigentlich merkwürdig, dass ich erst jetzt nach Fort Washakie fuhr und nicht schon vor dreißig Jahren. Ich war mit dem Namen dieses Ortes aufgewachsen. … An einem Winterabend, an dem vor dem Fenster meines Zimmers große Flocken fielen und es im ganzen Haus sonderbar still war, saß sie an meinem Bett und erzählte mir mit leiser Stimme von ihrem Großvater, der ein Indianer gewesen sei …« {Seite 5} So beginnt der Roman von Linus Reichlin. Der Ich-Erzähler Max Beer stammt aus der Schweiz, und lebt inzwischen in Berlin {hier weist der Roman durchaus autobiographische Züge auf}. Der Schriftsteller …

Interview mit Veneda Mühlenbrink

Veneda Mühlenbrinks Roman über das Leben der beiden Buchhändlerinnen Sylvia Beach und Adrienne Monnier ist vor wenigen Wochen im Ulrike Helmer Verlag erschienen. Natürlich ›dreht‹ sich auch in diesem Interview {fast} alles um die beiden Frauen {sie waren über Jahrzehnte ein Liebespaar}, Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit all seinen berühmten Autorinnen und Autoren und dem Café Les Deux Magots, zu dem die Autorin Mühlenbrink ein ganz besonderes Verhältnis hat. Histo Journal: »Odéonia, Paris« – Eine Liebe, zwei Buchhändlerinnen und die Welt der Bücherfreunde, so Titel und Untertitel Ihres neuen Romans. Mögen Sie den Inhalt kurz umreißen? Veneda Mühlenbrink ›: Zwei Frauen begegnen sich gegen Ende des 1. Weltkrieges in Paris. In einem kleinen Buchladen in der Rue de l’Odeon entsteht neben späterer Literaturgeschichte die große Liebe zwischen Sylvia Beach und Adrienne Monnier. Zwei Buchläden, Shakespeare & Company und das La Maison des Amis des Livres verbinden nach kurzer Zeit Menschen mit der Liebe zum geschriebenen Wort. Eine neue Avantgarde aus Poeten, Schriftstellern, Verlegern und Kritikern ist geboren. Die, die sich selbst Lost Generation …

Die Toten

Christian Kracht: »Die Toten« – Die Anfänge des Kinos waren, wie allgemein bekannt, wenig glamourös. Auf Jahrmärkten und in »Ein Nickel-Buden« {Nickelodeons} wurden kurze Filme vorgeführt, das Publikum duckte sich schreiend vor vermeidlich herannahenden Zügen und lachte über Stolperfritzen. Die »Hochkultur« wollte von diesem Medium lange nichts wissen. Der technische Fortschritt des Films, insbesondere das Aufkommen des Tonfilms fiel in Europa zusammen mit dem Aufkommen des Faschismus. Die neuen Machthaber in Deutschland, Spanien und Italien erkannten in der Breitenwirkung des Films das geeignete Mittel, um ihre Propaganda unters Volk zu bringen. Dabei war vornehmlich in Deutschland der ideale Propaganda-Film der, von dem die Zuschauer vor allem unterhalten wurden, sie sollten nicht bemerken, dass sie für ein Weltbild vereinnahmt wurden. Zu diesem Zeitpunkt, Mitte der 30er Jahre ist Christians Krachts Roman »Die Toten« angesiedelt. Der Roman beginnt mit einer Filmszene: Ein Japaner begeht rituellen Selbstmord. In der Pornografie würde man von »Snuff« sprechen, der realen Tötung vor laufender Kamera. Diese Filmaufnahmen sieht Nägeli, ein Schweizer Filmemacher, der schon lange etwas großes Schaffen will, aber ihm fehlt …

Cox oder der Lauf der Zeit

Christoph Ransmayr »Cox oder der Lauf der Zeit« – Die Zeit ist nicht absolut, sie ist relativ, das wissen wir spätestens seit Einstein. Unter bestimmten Bedingungen des Universums verlangsamt oder beschleunigt sich ihr Verlauf, etwa in der Umgebung oder dem Inneren eines Schwarzen Lochs. Und mancher Spaßvogel mag dem hinzufügen, dass jeder Zahnarztbesuch wie ein Schwarzes Loch ist: Man bewegt sich viel zu schnell darauf zu und dann, zwischen Spritze und Bohrern, will die Zeit nicht mehr vergehen. Alle Lebewesen sind der Zeit unterworfen – unsere Zellen sind selbst Uhrwerke – alle Lebewesen? Nein, es gibt einen Herrscher im fernen China, der sich »Herr über die Zeit« nennt. Und dieser Kaiser von China ruft am Ende des 18. Jahrhunderts den englischen Uhrmacher Alister Cox an seinen Hof und beauftragt ihn, Uhren zu bauen, die das relative Zeitgefühl des Menschen wiedergeben, die also nicht das physikalische sondern das emotionale Maß nehmen. Cox reist mit drei Gehilfen in das ferne Reich und stellt sich der Aufgabe. Zum Glück verzichtet das Buch weitgehend auf museale Details des Uhrenbaus, …

Odéonia, Paris

Veneda Mühlenbrink »Odéonia, Paris« – Allein sitzt Sylvia Beach 1961 im »Les Deux Magots«. Es ist der 3. Juli und die ›New York Times‹ titelt an jenem Tag: »Hemingway Dead of Shotgun Wound; Wife Says He Was Cleaning Weapon.« Sylvia indes weiß es besser. Mitnichten hat sich ein Schuss beim Säubern aus Hemingways Waffe gelöst und ihn getötet. Sie kannte Hem besser, denn damals in Paris sprach er oft und gerne über den Freitod. Und nicht nur er. Nur war Paris, war das »Les Deux Magots« damals ein anderer Ort …  »Eine Liebe, zwei Buchhändlerinnen und die Welt der Bücherfreunde« – So lautet der Untertitel dieses Romans. Ein dezenter Hinweis vielleicht für all jene, die mit dem eigentlichen Titel »Odéonia, Paris« nicht sogleich die Buchhändlerinnen – sowieso eine ein wenig irreführende Bezeichnung, waren doch beide so viel mehr als das – Adrienne Monnier und Sylvia Beach sowie die gesamte Pariser Literaturszene {inklusive des legendären Salons der Schriftstellerin Gertrude Stein, die den Begriff ›Lost Generation‹ erdachte hatte} der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts verbinden. Beach und Monnier, …

Hörbuch Rezension: Augustus

Hörbücher Rezension: Augustus – In Deutschland war der Autor John Williams {1922-1994} lange Zeit unbekannt. Zu Unrecht, hatte er doch schon 1973 für seinen Roman »Augustus« den National Book Award erhalten, neben dem Pulitzer-Preis der renommierteste Literaturpreis in den USA. Seinerzeit musste Williams sich diesen Preis mit dem Autor John Barth teilen, dessen Werk »Chimera« ebenfalls ausgezeichnet wurde. Erst jetzt – über 20 Jahre nach Williams’ Tod und über 40 Jahre nach Erscheinen – liegt »Augustus« in deutscher Übersetzung {übrigens hervorragend übersetzt von Bernhard Robben} vor. Mit dem gleichzeitigen Erscheinen als vertonte Ausgabe mag für so manchen Hörbuch Fan ein Traum in Erfüllung gehen. Neben den mittlerweile zu Klassikern avancierten vertonten Romanen »Ich zähmte die Wölfin« von Marguerite Yourcenar oder der SPQR-Reihe des Autors John Maddox Roberts gesellt sich nun also »Augustus«. Und – so viel sei schon verraten – Autor Williams brilliert auf ganzer Linie. Das Sujet des Autors John Williams war die Macht und der Erhalt derselben. Welche Veränderungen durchlebt ein Mensch, der sich ganz und gar der Macht verschreibt? Wenn er versucht …

Filmkritik: Jackie

Jackie – Es gab eine Zeit, in der die Öffentlichkeit wenig über das wusste, was im Weißen Haus vor sich ging oder wie es darin aussah. Statt Dauer-Getwitter gab es offizielle Pressetermine, und einer davon zieht sich wie ein roter Faden durch den Film: Jackie Kennedy lud ein TV Team in das Weiße Haus und führte es herum. Wir erleben eine unsichere, fast überforderte Frau, die immer wieder daran erinnert werden muss, für die Nation zu lächeln. Die offizielle Aufgabe einer First Lady war dekorativ {auch wenn einige von ihnen prägenden Einfluss auf die Politik ausübten}, aber Jackie Kennedy zeigte, dass das keine belanglose Aufgabe war: Sie war sich als eine der ersten des symbolischen Raums bewusst, den das Weiße Haus darstellte. Es ging nicht nur darum, nach eigenem Geschmack umzugestalten, was bisher jeder First Lady zustand. Es geht um die beinahe sakrale Funktion, die von Abraham Lincoln und Franklin Delano Roosevelt benutzte Möbel haben. Jackie betont, dass sie über die Dekoration Identität stiften will – etwas, das die Realpolitik überdauern soll … ▹ Filmkritik …